Einst gehörte Hintertux noch zur Gemeinde Schmirn, damals war das hintere Schmirntal noch vom kleinen Kaserer herab mit Eis und Schnee bedeckt. Den Leuten viel es schwer, den Weg zum Tuxer Joch zu finden. Im Spätherbst ergab es sich, dass eine Hintertuxerin, welche die Sommersaison über in Matrei am Brenner als Magd gearbeitet hatte über das Tuxer Joch in ihr Heimattal wollte. Noch vor dem ersten Hahnenschrei machte das Mädchen sich auf den Weg nach Schmirn. Da ein dichter Nebel im Tal lag und man kaum die Hand vor Augen sehen konnte kehrte die Magd bei einer Verwandten in Schmirn ein, as und plauschte etwas. Als der Nebel immer höher stieg und es noch finsterer als am Vormittag wurde, erzählten die Verwanden der Magd das in der Nähe der Schmirner Wand, einige Frauen hausen sollen, welche man im Sommer öfters gesehen hatte, allerdings wusste niemand etwas Genaueres über sie. Man erzählte Gutes sowie auch Böses von den Frauen, alle hatten aber großen Respekt vor ihnen.
Am Nachmittag machte sich die Magd wieder auf den Weg, um noch über das Tuxer Joch zu kommen. Ohne Schwierigkeiten fand die Magd den Weg ins Tal, aber die Abzweigung zum Tuxer Joch verfehlte sie bei dem dichten Nebel. Lange Zeit irrte Sie umher und bekam es mit der Angst zu tun. Als es anfing zu regnen und in den Höhen schneite war die Magd bereits todmüde. Dann lichtete der Nebel sich für eine kurze Zeit und sie erblickte einen großen Stein, nun wusste die Magd dass sie vor der Schmirner Wand stand und bemerkte zum ersten Mal die Umrisse einer Person. Zögernd ging die Magd auf den Schatten zu. Wie glücklich sie war, als es eine alte Frau sah. Die Magd grüßte höflich und bat die alte Frau um eine Ruhestätte. Die Frau nickte nur, deshalb setzte sich die Magd und nahm ihr Bündel mit den wenigen Habseligkeiten, etwas Brot und dem Lohn für die Arbeit in die Hand. Traurig erzählte die alte Frau, dass sie in Schmirn um Brot gebeten hätte. Als sie aber nicht zahlen konnte, wurde sie überall weggeschickt. Sie bat die Magd um ein kleines Stück Brot. Ohne zu zögern, teilte sie mit der Armen Frau und entschuldigte sich, dass es nicht von selbst etwas abgegeben hatte. Stillschweigend aß die alte Frau und als sie fertig war, brachen sie auf. Die Magd ging ihr nach und beide stiegen höher und höher, nach geraumer Zeit kamen sie auf das Plateau des Tuxer Jochs. Die alte Frau ging unbeirrt durch den schuhtiefen Schnee, bis zum „Gatterlegg“. Der Nebel hatte sich gelichtet und in der Niederung konnte man die spärlichen Lichter von Hintertux sehen. Voller Freude fiel die Magd der alten Frau um den Hals und bedankte sich für die Rettung. Plötzlich merkte die Magd, dass es ihr Bündel am Rastplatz vergessen hatte. Die Alte tröstete sie: „Mach dir keine Sorgen, niemand wird dich schelten.“ Trotzdem hatte die Magd Angst, was wohl ihr Vater sagen würde. Wovon sollte die Familie den Winter überleben? Trotzdem machte sie sich auf den Weg nach Hintertux.
Da es schon Abend wurde, beeilte sie sich und kam spät abends in ihrem Elternhaus an, wo sie herzlich begrüßt wurde. Von der Müdigkeit übermannt schlief sie noch am Stubentisch ein. In der Nacht setzte der Föhn ein – zuerst nur zaghaft, dann immer stärker, bis er nach Mitternacht zum Sturm anwuchs. Der starke Wind vertrieb alle Novemberwolken, und der heran brechende Tag versprach einen wunderschönen Spätherbst, der Föhn aber wehte immer noch. In den Höhen schmolz der Schnee und die Wege wurden wieder trocken.
Zwei Tage nach der Heimkehr waren die meisten Hintertuxer mit dem Reparieren der Dächer beschäftigt, welche der Wind arg zerzaust hatte. Die ersten Vorsorgen für den bevorstehenden Winter mussten getroffen werden. Der „Batzner“, wohin die Magd gehörte, schickte seine ältesten Buben hinauf zum Leitenstall, sie sollten prüfen, ob beim Dach alles in Ordnung ist. Nach einigen Ausbesserungsarbeiten war das Dach wieder in Ordnung, die Buben sperrten den Stall zu und wollten ins Dorf zurückzugehen. Oberhalb von Hintertux begegneten die Buben ein paar gut gekleideten Frauen, sie sahen aus, als ob sie von adeligem Stand wären. Eine von den Frauen trug ein großes Pack. Als die Buben vorbei wollten fragte eine der Frauen: „Wo finden wir in Hintertux den Batzenbauern?“ Die Buben erwiderten: „Geht mit, wir zeigen euch den Weg.“ Gemeinsam gingen sie das letzte Stück bis ins Dorf. Die Mutter und die Magd waren mit dem Anrichten des bescheidenen Mittagessens beschäftigt, als die drei Frauen mit den Buben in die Küche kamen.
Gerade traf der Vater ein und betrachtete die drei noblen Damen, als er fragte, was sie wünschten, sagte eine von ihnen: „Wir suchen den Batzenbauern.“ „Der bin ich“, antwortete der Mann. Die Frau sprach weiter: „Deine Tochter war vergangenen Sommer in Mühlbach bei Matrei beim Brennerbauern im Dienst!“ Der Bauer bejahte und meinte: „Ihr habt einen langen Weg hinter euch und seid bestimmt hungrig, wir haben nur ein bescheidenes Mahl, aber ich würde euch bitten, mit uns zu essen. Als alle Kinder da waren, machte man das Kreuzzeichen und setzte sich zu Tisch. Zuerst schöpfte die Mutter schöpfte den Damen, dann dem Vater und den Kindern aus einer großen Schüssel, welche mit Milchsuppe gefüllt war. Man aß stillschweigend und als alle fertig waren, ging der Bauer mit den drei Damen in die Stube.
Eine legte ein großes Pack auf den Tisch. Der Bauer fragte, ob sie Angehörige des Grafen von Matrei seien und warum sie zu so später Jahreszeit noch über das Joch gegangen waren. „Guter Mann“, erwiderte eine der Frauen, „uns kann kein Wetter, kein Schnee und kein Wind etwas anhaben. Ruf uns deine Tochter!“ Die Dirn kam sofort in die Stube und die Frauen begannen das Bündel zu öffnen. Ganz erstaunt war das Mädchen, als alle ihre Habseligkeiten darin waren. Noch dazu wurde ein Ballen Loden, ein Wirktuch und noch weitere nützliche Dinge auf den Tisch gelegt. Der Vater brachte vor Verwunderung kein Wort mehr heraus, dann endlich stammelte er: „Womit habe ich das verdient?“ Eine der Frauen antwortete: „Du nicht, Bauer, sondern deine Tochter hat sich das verdient. Deine Tochter gab mir von ihrem Brot und zeigte Dankbarkeit, als ich sie im Nebel über das Joch brachte. Sie ist ein gutes Kind. Sie reichten der Dirn ein Goldstück und mahnten: „Sei sparsam damit!“
Die Brüder wollten wissen, wo die Damen hingehörten und versteckten sich in einer Mulde. Es dauerte nicht lange, und die Damen kamen über den Jochboden geschwebt. Der Jochwind trug ihr Gespräch herüber, sodass die Buben alles verstehen konnten. Eine Frau meinte: Wenn jemand gut zu uns ist, soll ihm kein Leid geschehen!“ Auf einmal waren die Frauen ihren Blicken entschwunden. Die Brüder schlichen an den Rand des Jochgrates und sahen sie am Fuß des Schmirner Schrofens verschwinden. Sofort eilten sie nach Hause und berichteten, was sie beobachtet hatten. Von da an hörte man immer mehr von Wanderern, die auf wundersame Weise aus Bergnot gerettet worden seien, verirrte Tiere, welche auf unerklärliche Weise wieder gefunden wurden und immer sei eine Frau im Spiel gewesen, die im Schmirner Schrofen verschwand. Von dieser Zeit an nannte man den Schmirner Schorfen die „Frauenwand“.
(Erzählt von Hebamme Anna Wechselberger vulgo Krummer Andl)